Hundertjähriges Alltagsauto

Einmal täglich Tin Lizzy

Helmut Kühnis fährt einen 100-jährigen Ford Model T – als Alltagsfahrzeug wohlgemerkt. Asket? Aussteiger? Alternativer? Nichts davon! Aber etwas verrückt ist er schon ...

Veröffentlicht am 29.06.2020

Rund ein Prozent der über 15 Millionen gebauten T-Modelle von Ford existieren noch – davon ein Grossteil noch in fahrbereitem Zustand. Das entspricht weltweit rund 150'000 Fahrzeugen. Eines davon stand 2015 in Michigan, USA, bei eBay zum Verkauf.

Für 17'000 Dollar ab Platz bekam schliesslich Helmut Kühnis aus dem sanktgallischen Oberriet den Zuschlag. Während des darauffolgenden Winters überholte der gelernte Maschinenmechaniker den 1919 gebauten Oldie technisch und brachte ihn im Mai 2016 auf die Strasse, wobei letzteres wörtlich zu verstehen ist. Tatsächlich benutzt Kühnis den Hundertjährigen als Alltagsauto.

Erst niemals schwarz, dann nur noch schwarz

Etwas Vorgeschichte: Die Buchstaben des Alphabets wurden von Ford der Reihe nach vergeben, bis 1909 das «T» an der Reihe war. Es wurde im Piquette Avenue Plant in Detroit in Handarbeit und entsprechend teuer gebaut. Diese Autos waren übrigens nie schwarz, sondern grün, rot, blau oder grau. Als Henry Ford in einer Grossschlachterei das Fliessband entdeckte, folgte 1913 der Umzug ins entsprechend effizient ausstaffierte Werk Highland Park. Das Modelljahr 1914 ist somit die eigentliche Geburtsstunde des auf dem Fliessband produzierten und für fast alle erschwinglichen Model T. Von da ab war auch nur noch eine Farbe lieferbar. Der pragmatisch denkende Henry Ford wählte neutrales und gefälliges Schwarz, da das Chassis und viele andere Teile ohnehin schon schwarz waren – und nicht, weil die Farbe am schnellsten trocknete, wie oft erzählt wird.

Vorgeschichte unbekannt: Das wievielte Verdeck ist wohl schon drauf?

Unser Fotomodell stammt aus der Zeit nach einem ersten Facelift im Jahr 1917. Es brachte geglättete und harmonischere Formen sowie eine besser eingepasste Kühlermaske und kam ganz ohne Messing aus. Der Fahrer steigt vorne rechts zu, weil sich links das Lenkrad und die Handbremse befinden. Die linke Tür ist nur angedeutet, hinten gibt es hingegen zwei Pforten. In der Breite geht es recht eng zu. Auf allen vier Sitzen ist man stets mit dem Platznachbarn auf Tuchfühlung, während sich die Beine austoben können. Kopffreiheit ist beim nur offen gefahrenen T kein Thema. Doch selbst bei geschlossenem Verdeck finden Hüte oder Hochsteckfrisuren genug Platz.

Die Geschichte unseres T liegt weitgehend im Dunkeln. Klar ist, dass während des durchlaufenden Jahrhunderts sehr vieles ausgetauscht und ergänzt wurde. Wie viele durchgescheuerte Verdecke wurden wohl ersetzt? Wie oft ist die Karosse überlackiert, wie häufig sind die Lederbezüge schon getauscht worden? Trotzdem sieht unser T noch exakt so aus, wie er 1919 vom Band gelaufen ist – mit wenigen Ausnahmen: Die Acetylen-Funzeln wurden im Laufe der Zeit durch elektrisches Licht ergänzt. Und
mittlerweile sind Blinker, Heckleuchten, ein Tacho sowie das ein oder andere Technik-Update an Bord gekommen.

Robuste und günstige Technik  – und berggängig dazu

Die ganze Konstruktion ist unverwüstlich, da sie sehr simpel gehalten wurde. Die stabile Holz-Stahlkarosserie sitzt auf einem Leiterrahmen aus Stahl. Der 2,9 Liter grosse Grauguss-Vierzylinder leistet 20 PS, wobei Helmut Kühnis’ Exemplar dank eines anderen Zylinderkopfs acht Pferde mehr liefert und mit 5,5 : 1 verdichtet ist – original sind es nur 4 : 1.

Heisst, dass mit nahezu allem gefahren werden kann, was entlammbar ist. Über ein zweigängiges Umlaufgetriebe werden die Hinterräder angetrieben und mittels Band, das auf die Kardanwelle wirkt, auch gebremst. Die Vorderräder sind ungebremst, die Hinterräder werden zusätzlich durch die Handbrems-Trommeln verzögert. Unser Fotomodell verfügt zudem über ein beliebtes Zubehör, die «Rocky Mountain Brakes», also Aussenbandbremsen auf der Hinterachse. So ausgestattet ist die «Blechliesel» für den heutigen Verkehr gerüstet.

Hebel oben, unten, überall: Fahren will gelernt sein

Verglichen mit heutigen Standards sind das Starten und Fahren relativ aufwendig und erfordern die volle Konzentration. Damals war ein Pferd auch nicht einfacher im Zaum zu halten und schliesslich
haben es über 15 Millionen Menschen irgendwie gelernt.

Der linke Lenkradhebel regelt die Vorzündung, der rechte das Gas. Oben ist Standgas, unten Vollgas – fast eine Art Tempomat. Das linke Fusspedal gedrückt, ist der erste Gang aktiviert. Lässt man es los, ist man im Zweiten und halb gedrückt in der Neutralstellung. Diese endet man ebenso mit dem Handbremshebel. Das mittlere Pedal aktiviert den Rückwärtsgang, das rechte die Bremsen. Alles klar?
Helmut Kühnis beherrscht alles perfekt und fährt mit dem Oldie überall hin. «Ich nutze ihn zum Einkaufen, zum Entsorgen, für Besuche und im Moment ganz oft für den Baumarkt, um Material für meinen Bau zu transportieren. Mein Oldie hat den Chiemsee gesehen und dreimal das O-iO in Obwalden. Plauschfahrten, nur weil gerade schönes Wetter ist, mache ich nicht. Selbst Anfragen für Hochzeitsfahrten lehne ich ab», sagt der 60-Jährige.

Ungeahnte Tücken im heutigen Alltagsverkehr

Stört die begrenzte Höchstgeschwindigkeit nicht im Alltag? «Die rund 60 km/h reichen für erstaunlich viele Zwecke völlig aus, zudem fahre ich morgens einfach früher los, stelle das Navi auf ‹kürzeste Strecke›, meide Schnellstrassen und lasse den schnelleren Verkehr vorbeirauschen.» Bergab liegen schon mal 70 km/h drin, aber das ist dann schon recht gefährlich, weil es ungeahnte Tücken gibt: «In den Kurven bremsen geht gar nicht, weil die Hinterradbremsen blockieren und die Blattfederaufhängung kaum Bodenhaftung bietet. Fussgänger schätzen den langen Bremsweg schlecht ein und laufen vors Auto. Autofahrer machen die Lücke vor mir ständig zu, welche ich als Sicherheitsabstand brauche», gibt Kühnis zu bedenken. Aber interessanterweise gäbe es viele Verkehrsteilnehmer, die gar nicht überholen, sondern sich am historischen Anblick erfreuen.

Der Hochbeiner war in eine Zeit hinein konstruiert worden, als es noch kaum befestigte Strassen gab. Darum meistert er auch Wiesen oder Feldwege mit Bravour. Nur wenn es stark regnet und im Winter bleibt die Tin Lizzy – auch Tin Lizzie geschrieben – in der Garage. Für solche Fälle muss dann ein nebenan parkierter, 26 Jahre alter Japaner einspringen.

Mal zu trocken, mal zu feucht: Lizzy stellt Ansprüche

Plötzlich sucht Kühnis dringend Wasser: «Die Speichenräder klappern. Sie sind ausgetrocknet und brauchen Feuchtigkeit. Umgekehrt quillen sie auf, wenn sie zu lange in einer Pfütze stehen. Lizzy stellt Ansprüche. Zum Glück ist die weltweite Community riesig. Es gibt alle Ersatzteile und viele technische Updates zu kaufen. Ich habe einen super Freundeskreis, welcher mich jederzeit unterstützt: alles Schrauber an alten Motorrädern und Oldtimern. Zusammen haben wir schon viele gemütliche Stunden verbracht, denn ich kann nicht einfach in eine Ford-Werkstatt fahren, wenn ich Fragen oder Probleme habe. Ein Model T am Leben zu erhalten, ist jedoch kaum schwieriger als beim Käer», gibt Kühnis Entwarnung.

Der Ford ist übrigens bereits vorreserviert. Helmut Kühnis’ 14-jährige Tochter kommt fürs Leben gern mit und wird ihn dereinst übernehmen – und damit zur Schule, zu Freunden oder vielleicht auch irgendwann einmal zum Baumarkt fahren ...

 

Technische Daten
Ford Model T Touring (1919)

R4-Benziner, 2895 cm3, 15 kW/20 PS, 2-Gang manuell, Hinterradantrieb, Verbrauch: 11–18 l/100 km, Höchstgeschwindigkeit: ca. 65–70 km/h
L/B/H: 3404/1676/≈1800 mm, Leergewicht: 850 kg
Preis 1919: ab 280 USD, Wert 2019: ca. 30'000 Franken.

 

Text: Stefan Fritschi
Fotos: Vesa Eskola

 

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

Helmut Kühnis und sein Ford T von 1919

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