Mercedes 230 CE Sportline (1991)

Dieser Benz machte selbst Mercedes Angst

Das Mercedes C124 Coupé ist der König einer Zeit, in welcher der Entwicklung bis ins kleinste Detail mehr Beachtung geschenkt wurde als viel Ausstattung und Leistung. Vor ihm hatte Mercedes selbst noch Angst.

Veröffentlicht am 24.09.2023

In einer neuen Mercedes E-Klasse ist eine Unmenge an Elektronik verbaut. Eine dreistellige Zahl von Steuergeräten verschiebt, massiert und klimatisiert Sitze, spielt TikTok-Videos auf dem Superscreen ab, lässt das Auto teilautonom fahren. Dinge, die wir heute als Luxus- und Komfortausstattung bezeichnen und Reisen sicher angenehmer gestalten. Aber machen sie Autofahren wirklich auch einfacher, entspannter, besser?

Mercedes durch und durch

Vor 30 Jahren hiess Komfort in einer Mercedes E-Klasse nämlich noch etwas anderes. Clevere Details statt Ausstattungsschlachten, Entwicklungsqualität statt Leder bis in den hintersten Winkel. Klar, wenn man das nötige Geld nach Stuttgart überwies, bekam man Memory-Sitze, Tempomat und Autotelefon. Doch auch die Brot-und-Butter-Ausstattungen von damals offenbaren das Hirnschmalz, das in die Entwicklung floss. Wer heute in einem «nackten» 124er-Mercedes Platz nimmt, entdeckt Feinheiten, die bei heutigen Autos verloren gegangen scheinen.


Auch bei Regen sieht so ein Mercedes C124 nicht trist aus. Besonders im Farbton Bornit.

Bei der Einführung 1984 nannte Mercedes den W124 schlicht die «Mittlere Baureihe». Schliesslich war er zwischen dem kleinen 190er und der grossen S-Klasse angesiedelt, warum also auch nicht. Pragmatismus offenbarte auch das Design. Aus heutiger Sicht ist Bruno Saccos Schöpfung fast schon aufdringlich zurückhaltend. Schnörkellos, sachlich und so klar gegliedert wie die Akten auf deutschen Ämtern.

Die neue Mercedes E-Klasse W214

Die Coupé-Version namens C 124 verlieh dem Design ab 1987 einen Hauch mehr Eleganz als Viertürer und Kombi. Mit der Limousine teilt sich der Zweitürer nur den Vorderwagen und die Rückleuchten. Der Radstand wurde um 8,5  Zentimeter verkürzt, die Heckscheibe fällt erst spät, dafür recht steil ab. Chrom ist, ausser am Rahmen des Kühlergrills, nur spärlich vorhanden. Beim Coupé verbaute Mercedes serienmässig die breiten, farblich abgesetzten Seitenplanken, die bei den anderen Varianten erst später eingeführt wurden. Anfangs noch in zwei verschiedenen Grautönen erhältlich waren sie ab der ersten Modellpflege 1989 («MoPf 1») passend zur bestellten Karosseriefarbe lackiert.

Bunt und sportlich angehaucht

Ein solcher «MoPf 1» ist auch unser Fotofahrzeug. Der 230 CE von 1991 trägt die Farbe «Bornit Metallic», Farbcode 481 U. Ohne direkte Lichteinstrahlung könnte es sich auch um das übliche Vertreter-Grau handeln. Im Sonnenlicht glänzt und funkelt der Lack dann in den schönsten Aubergine-Tönen. Mehr Zeitgeist geht nicht. Allzu häufig bestellt wurde die Farbe beim 124er nicht. Ebenfalls eine Erwähnung wert ist das hier verbaute Sportline-­Paket. Nebst Achtloch-Alufelgen brachte es eine Tieferlegung um 22  Millimeter und Reifen mit 205er- statt 195er-Breite mit. All das fällt nur absoluten Kennern der Materie auf und wirkt nicht im Entferntesten aufdringlich. Ganz im Gegensatz zum Urenkel CLE (siehe S.  6), der insbesondere mit AMG-Paket schon im Stand so aussieht, als wolle er einen auffressen.


Tieferlegung und Breitreifen des Sportline-Pakets fallen nur absoluten Kennern der Materie auf.

Stattdessen sind es die kleinen Dinge und spannenden Detaillösungen, die beim 124er auffallen. Etwa die asymmetrischen Aussenspiegel: rechts hoch und kurz, links flach und breit. Eine ehemalige Mercedes-Spezialität, von der man sich nicht nur eine bessere Aerodynamik, sondern auch eine bessere Übersicht beim Parkieren versprach. Oder die geriffelten Rückleuchten, an denen weniger Dreck hängen bleiben soll. Oder die lange Motorhaube mit Schwung unterhalb der Frontscheibe, um den hoffnungslos überentwickelten Einarm-Scheibenwischer zu verdecken. Oder die extra Serviceposition der Motorhaube, in der sie um 90  Grad nach oben klappt. (Die cleveren Lösungen des Mercedes 230 CE im Detail!)

Einstiegs-Vierzylinder mit 132 PS

Wobei der Motor in diesem Fall auch so gut zugänglich ist. Im 230er werkelt nämlich der einzige Vierzylinder, der in der Schweiz im Coupé erhältlich war. Nach der zweiten Modellpflege 1993 flog er zugunsten des moderneren 220ers aus dem Programm. In Italien und auf einigen anderen Märkten war zeitweise sogar ein noch kleinerer 200 CE verfügbar. Bei uns aber war der 230er zunächst das absolute Minimum. Ausgelegt war der Motorraum für Sechs- und – in der Limousine – Achtzylindermotoren. Entsprechend verloren wirkt der 2,3-Liter-Saugrohr-Einspritzer mit all der umbauten Luft drum herum. 132 PS leistet der Motor, was für ein
E-Klasse Coupé nach heutigem Massstab lächerlich mickrig wirkt.


In der Serviceposition schwingt die Motorhaube um 90 Grad auf, damit der Motorraum optimal zugänglich ist.

Um das aber mal in Relation zu setzen: Das waren 17 PS mehr als ein zeitgenössischer VW Golf 3 GTI. Der heutige Einstiegs-CLE holt aus seinem Zweiliter-Vierzylinder (204 PS) sogar noch 41 PS weniger als ein 8er-Golf GTI. So gesehen waren die Leistungsdaten also durchaus respektabel. Zum Mitschwimmen im Verkehr reicht es auch heute noch. Nur dynamisch ist man nach modernen Vorstellungen nicht mehr unterwegs. Da reisst das Sportline-Paket nichts mehr raus, das zusätzlich zu den erwähnten Extras noch ein kleineres Lenkrad (39 statt 40 cm Durchmesser) sowie härtere Stabilisatoren und Dämpfer mitbrachte. Objektiv betrachtet: bergauf zu wenig Leistung, Handschaltung mit zu langen Wegen, latschiges Kupplungspedal, unpräzise Kugelumlauflenkung.

Pures Fahren ohne Filter


Handschaltung, Stoffsitze, Lüftung statt Klimaanlage, keine Airbags: So karg konnte eine Mercedes E-Klasse sein.

Subjektiv dagegen ist das hier die reine Lehre des Fahrens. Der Sauger hängt gut am Gas, klingt rauchig, mechanisch und satt. Wer schon einmal einen 124er mit Viergang-Automatik gefahren ist, wird sich über die Fünfgang-Handschaltung freuen, mit der der Motor auf Drehzahl gehalten werden kann. Die Bremse verblüfft mit definiertem Druckpunkt. Das Taxigewerbe im Blick sollte der 124er gut manövrierbar sein. So entwickelte Mercedes eine Lenkung, die besonders viel Radeinschlag ermöglicht. Einparken und Durch-den-Verkehr-Zirkeln ist damit ein Traum. All das lässt sich dank fehlender B-Säulen und vier vollständig elektrisch versenkbarer Seitenscheiben mit einer Extraportion Frischluft geniessen.

Wenig Ausstattung, aber …

Man cruist einfach dahin, wippt in den Federkernsitzen nach, stets geleitet vom Stern weit vorne auf der Haube. Und wie man dann so über moderne Autos nachdenkt, fallen einem die gute Rundumsicht und die völlige Abstinenz jeglichen Ablenkungspotenzials besonders auf. Keine Fahrhilfen und Bildschirme funken dazwischen. Einfacher, entspannter, besser? Kommt auf den Standpunkt an, denn auf der anderen Seite ist auch die Ausstattung dieses 230 CE mehr als dürftig. Weder Airbags, Automatik, elektrische Spiegel- oder Sitzverstellung noch eine Klimaanlage sind an Bord.


Die orangen Markierungen im Tacho weisen direkt ersichtlich auf die Richtgeschwindigkeiten hin.

Dafür treten so eben die Details besonders hervor. Zum Beispiel die orangenen Markierungen im Tacho, die verschiedene Richtgeschwindigkeiten anzeigen. Oder die winzige dritte Sonnenblende über dem Innenspiegel. Oder der kombinierte Lenkstockhebel für Licht, Blinker und Scheibenwischer. Oder die elektrischen Gurtreicher. Oder die vom Armaturenbrett aus versenkbaren hinteren Kopfstützen. Oder, oder, oder. All diese Dinge bringen Charakter und machen auch einen Basis-124er zum echten Mercedes. Der Stoff fühlt sich dicker, das Zebrano-­Holz gediegener, das Schliessgeräusch der Türen hört sich satter an als anderswo. Derart überentwickelt und einfach selbst zu reparieren sind 124er für astronomische Laufleistungen gut. Vor ihm hätte Mercedes selbst Angst gehabt, sagt man, weil er Werkstätten so selten von innen sieht.

Der letzte echte Mercedes?


Bei Sonneneinstralung kommt der satte Violetton der Lackfarbe Bornit erst so richtig zur Geltung.

Bis mit der zweiten Modellpflege 1993 Lacke auf Wasserbasis eingeführt wurden, die Rostprobleme mitbrachten. Mit «MoPf 2» kam erstmals auch die Bezeichnung «E-Klasse». Kein Zusammenhang, nur eine Feststellung. So gilt die «Mittlere Klasse» bis Mitte 1993 unter eisernen Sternen-­Fans als der letzte echte Mercedes. Das würden wir so nicht unterschreiben. Aber es ist ein Auto aus einer Zeit, in der noch andere Dinge im Fokus standen. Ein Fahrzeug, dessen Luxus- und Mercedes-Gefühl vielleicht woanders verortet sind als heute. Nicht besser, aber simpler.

Technische Daten Mercedes 230 CE (1991)

  • Motor: R4-Benziner
  • Hubraum: 2298?cm3
  • Bohrung × Hub: 95,5 × 80,2?mm
  • Leistung: 97?kW/132?PS bei 5100/min
  • Literleistung: 57,4?PS/l
  • Drehmoment: 198?Nm bei 3500/min
  • Getriebe: 5-Gang-Manuell
  • Antrieb: Hinterrad
  • Normverbrauch (ECE): 8,6?l/100?km
  • Beschleunigung 0–100?km/h: 11,1?s
  • Höchstgeschwindigkeit: 200?km/h
  • Abmessungen (L/B/H): 4655/1740/1375?mm
  • Radstand: 2715?mm
  • Leergewicht: 1380?kg
  • Kofferraumvolumen: 480?l
  • Tankinhalt: 70?l
  • Preis 1991: ab 58'930 Franken
  • Preis aktuell: 10'000–15'000 Franken (Zustand 2).

Text: Moritz Doka
Bilder: Mercedes, Moritz Doka

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